Christophe Meierhans
DIE ABLÖSUNG
ein zu erzählendes Märchen
Es war einmal… in einem weit entfernten Land: da gab es eine kleine Stadt namens X, die viel zum nationalen Wohlstand beitrug.
Die Stadt war weit über die Landesgrenzen hinaus für ihre industrielle Fertigung bekannt und ihre Einwohner waren stolz auf ihren Ruf.
Doch, nach vielen Jahren florierender Tätigkeit gingen die Rohstoffe zur Neige und die Produktion begann zu sinken.
Das rasche Wachstum eines kleinen Dorfes zu einer bedeutenden Industriestadt wurde plötzlich rückgängig gemacht. Anstatt in die Stadt zu strömen, zogen die Menschen nach und nach weg, weil die Arbeit knapp wurde.
Es dauerte gar nicht lange, da war die Bevölkerung um die Hälfte geschrumpft und kaum noch ein jüngerer Mensch wollte wirklich dort leben.
Zu dieser Zeit befanden sich die Ökosysteme der Erde in einem sehr schlechten Zustand. Während die Menschen in der südlichen Hemisphäre bereits lange unter diesem Problem litten, wurden die Menschen im Norden erst jetzt darauf aufmerksam. Sie begannen zu befürchten, dass auch ihre eigenen Lebensbedingungen bald ernsthaft beeinträchtigt werden könnten.
Alle Regierungen trafen sich also sieben Mal zu einem außerordentlichen Gipfel und beschlossen — mit knapper Mehrheit — die Einführung drastischer Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit ihrer natürlichen Umwelt.
Die Schlussfolgerungen des siebten und letzten außerordentlichen Gipfels können wie folgt zusammengefasst werden:
Die Menschen haben mit ihren Häusern, Straßen, Fabriken, Minen und all den anderen Infrastrukturen, die sie gebaut haben, so viel Platz auf der Erde eingenommen, dass sie das Leben von Millionen anderer Lebewesen unmöglich gemacht haben. Das Überleben der Menschen hängt von der Existenz all dieser anderen Arten ab. Um nicht auszusterben, musste der Mensch einen großen Teil der von ihm besetzten Landfläche freigeben, um sie unverzüglich der Natur zurückzugeben.
Nach diesem Beschluss verpflichtete sich jedes Land vor allen anderen, ein Drittel seiner bewohnten Landfläche aufzugeben.
Jedes Land sollte selbst entscheiden, wie es am besten vorgehen, welche Standorte es wählen und wie es mit den betroffenen Bürgern umgehen wollte.
Eine Mehrheit der Länder hatte dafür gestimmt, es musste also getan werden.
In dem kleinen Land, in dem die kleine Stadt X lag, war jeder am Radio, am Fernseher oder im Internet gefesselt, als die Regierung ihre Renaturierungspolitik ankündigte.
Die Gebiete des Landes, die geräumt werden mussten, um Platz für Wildnis zu schaffen, waren Orte, deren Bevölkerung bereits rückläufig war und die keine Menschen mehr anzogen; Orte also, die nur durch massive Investitionen wieder attraktiv gemacht werden konnten; Orte, deren Wirtschaft nicht mehr rentabel war und die nur ein geringes potenzial für Erholung hatten; Orte schließlich, die eine sehr hohes Verwilderungspotential hatten, weil ein Großteil ihrer Landfläche mit Beton bedeckt war.
Die Bewohner der betroffenen Gebiete mussten wegziehen, aber der Staat würde ihnen eine großzügige Entschädigung zahlen und sie bei der Suche nach einer neuen Heimat unterstützen.
In den Ohren der Bewohner von X ließ die Beschreibung der Regierung keinen Raum für Zweifel: Es war das genaue Porträt ihrer eigenen Stadt!
Innerhalb weniger Stunden, noch bevor der Name der Stadt von der Regierung, oder in den Nachrichten erwähnt worden war, ging die Hälfte der Bevölkerung von X auf die Straße und protestierte.
In jeder Ecke der Stadt konnte man die Demonstranten skandieren hören:
Wir werden niemals von hier abhauen
Egal wieviel ihr uns dann geben wollt
Mag auf der großen Welt auch noch soviel gescheh’n,
Wir werden niemals von hier abhauen
Uns’re Stadt bleibt hier stehn,
Wir werden niemals von hier abhauen
Am nächsten Tag wachten die Einwohner von X in einer geteilten Stadt auf: auf der einen Seite die “Bleibenden” — oft auch “Bleibis”genannt — die fest entschlossen waren, die Entscheidung der Regierung anzufechten und ihren Ort gegen sein geplantes Verschwinden zu verteidigen.
Auf der anderen Seite die “Ausziehenden” — oder “Verlassis” — die die Entscheidung der Regierung eher als Gelegenheit begrüßten, anderswo ein neues Leben zu beginnen und eine Stadt zu verlassen, von der sie glaubten, dass sie ihnen nicht mehr viel zu bieten hatte.
“Geht mit uns und helft uns, ein gutes Abkommen mit der Regierung auszuhandeln”, sagten die Ausziehenden zu den Bleibenden. “Bleibt bei uns und helft, euren Platz und eure Geschichte zu verteidigen”, sagten die Bleibenden zu den Ausziehenden.
Beide Parteien waren so sehr von ihrem Standpunkt überzeugt, dass sie nicht viel tun konnten, um die anderen zu überzeugen.
Schließlich, wie von allen erwartet, erschien der Name X auf der offiziellen Liste der Regierung mit den Orten, die wieder verwildert werden sollten.
Die Verlassis gingen zur Regierung, um mit ihr zu verhandeln; die Bleibis blieben zu Hause, um den Widerstand zu planen.
Am nächsten Tag schickten die Bleibis einen offenen Brief an die Regierung, der in allen nationalen Zeitungen veröffentlicht wurde:
Wer seid ihr, die in euren weit entfernten Büros sitzt und auf eine Karte schaut? Ihr seid nie hierher gekommen. Ihr kennt unsere Stadt nicht.
Und dennoch habt ihr entschieden, dass sie nicht mehr lebenswert ist.
Solange sie dem Land Wohlstand garantierte, hieltet ihr unsere Region für den Stolz der Nation. Solange unsere Zeit und unser Schweiß euren Bedürfnissen dienten, war unser Leben eine gute Investition.
Aber jetzt, da die Kurven in eurer Bilanz nicht mehr nach oben zeigen, betrachtet ihr diesen Ort als Wegwerfware. Jetzt, da eure Statistiken zeigen, dass die Menschen hier – wie überall – altern, seht ihr uns als überflüssig an.
In euren Büchern ist unsere Stadt schon längst eine Ruine, bewohnt von ruinierten Menschen ohne Zukunft.
In eurer Fantasie seid ihr die Helden, die uns von einem sinkenden Schiff retten.
Was auch immer ihr darüber denkt, diese Stadt – und das Land um sie herum – ist unser Zuhause.
Es ist unsere Geschichte.
Sie ist der Ort, an dem wir leben.
Sie ist das, was wir sind.
Wir werden sie nicht für das Versprechen einer anderen Heimat aufgeben, wo auch immer diese sein mag, wie luxuriös Ihr Angebot auch sein mag.
Wir sind wie die Natur, die ihr zu schützen vorgebt: Wenn ihr dort einen Baum pflanzt, wird er niemals den Baum ersetzen, den ihr hier gefällt habt.
Die Leute in der Regierung waren nicht naiv. Sie rechneten damit, dass ein Teil der Einwohner ihr Angebot ablehnen würde.
Für diese Eventualität hatten sie einen Plan.
Studien hatten gezeigt, dass sich die Menschen in der Regel beruhigen und zur Vernunft kommen, wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, sich zu äußern.
Also, wurden Abgesandte in die Stadt geschickt und in allen Stadtvierteln wurden Versammlungen organisiert, bei denen die Bewohner ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen konnten. Die Regierung hatte ein offenes Ohr.
Doch, statt auf eine Schar von Bürgern, begierig darauf, gehört zu werden, trafen die Abgesandten auf leere Gemeindesäle. Die Bleibis waren organisiert: kein einziger von ihnen machte sich die Mühe, sein Haus zu verlassen.
Es heißt, dass an jenem Abend nur eine Person auftauchte: Herr D. – ein Verlassi und Erbe einer Familie reicher Fabrikanten. Herr D. kam um sich zu beschweren über die Größe der Häuser, die ihm die Entschädigungsgelder der Regierung an anderer Stelle bieten konnten.
Der Abgesandte teilte Herrn D. mit, dass das Geschäft mit den Ausziehenden bereits abgeschlossen sei und dass er dort sei, ausschliesslich mit den Bleibenden zu sprechen.
Daraufhin erklärte Herr D, dass er in diesem Fall X doch nicht verlassen, und sich stattdessen den Bleibenden anschließen würde.
Das unkonventionelle Verhalten der Bleibenden wurde mit der kulturellen Kluft zwischen Metropole und Provinz erklärt. Auf Grundlage weiterer soziologischer und verhaltenspsychologischer Erkenntnisse kam die Regierung zu dem Schluss, dass angesichts der Altersverteilung zwischen Ausziehenden und Bleibenden die Bleibenden wahrscheinlich aus eigenem Antrieb nachziehen würden, sobald die Ausziehenden die Stadt verließen.
Und in der Tat gehörten diejenigen, die X verließen, hauptsächlich zum jüngeren Teil der Bevölkerung: Familien mit kleinen Kindern; junge Erwachsene, die ins Berufsleben einsteigen wollten; Langzeitarbeitslose; oder Menschen, die noch einen guten Arbeitsplatz hatten, aber wussten, dass diese Arbeitsplätze angesichts der vielen Verlassis wahrscheinlich nicht mehr lange bestehen würden.
Im Gegensatz zu Herrn D. waren die meisten Ausziehenden mit dem Geld zufrieden, das ihnen die Regierung versprochen hatte.
Sie nahmen an kostenlos organisierten Reisen teil, um neue Wohnorte in allen Ecken des Landes zu besuchen. Es waren aufregende Zeiten für sie und kaum ein anderes Thema schien mehr ein Gespräch wert zu sein, sei es in der Bar, am Esstisch, in der Zeitung oder bei der Arbeit…
Neue Horizonte hatten sich aufgetan, und sie waren begierig, sie zu erkunden.
Die Bleibenden hingegen waren meist ältere, pensionierte Bürger*innen, die sich mit der Stadt und ihrer Geschichte tiefer verbunden fühlten. Die Aussicht, anderswo ein neues Leben zu beginnen, war für sie nicht sinnvoll. Ganz im Gegenteil fühlte sich gerade der Widerstand gegen die Regierung wie der Beginn eines neuen Lebens an.
Anstatt vor dem Fernseher zu sitzen oder die Enkelkinder von der Schule abzuholen, verbrachten sie ihre Zeit damit, geheime Versammlungen zu organisieren. Unter ihnen wuchs ein Gefühl der Gemeinsamkeit und Solidarität, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlten sie sich wieder stolz darauf, wer sie waren.
Doch, trotz ihres neuen Enthusiasmus hinterließen die Vorbereitungen und die Freude über die Abreise der Verlassis bei den Bleibis auch ein Gefühl der Trauer und Frustration.
Auch für die Verlassis war die Situation nicht nur rosig. Wenn die Bleibis sich weigerten zu gehen, bedeutete das für sie nicht nur, dass sie sich darauf vorbereiteten, ihre Stadt zu verlassen, sondern auch, dass sie ihre Eltern und Großeltern zurückließen.
“Aber warum kommst du nicht mit uns, Oma?”, sagten sie, “Papa, warum klammerst du dich so sehr an diesen heruntergekommenen und verschmutzten Ort?”
Die Dinge wären so viel einfacher, wenn die Älteren einfach mitkommen würden…
Aber die einen verstanden die anderen nicht. Viele Bleibis sahen die Verlassis als Verräter. Viele Verlassis wiederum hielten die Bleibis für egoistisch und verübelten ihnen, dass sie sich weigerten, mit der Zeit zu gehen. Viele Familien, die sich einst nahe standen, brachen auseinander.
Und, nach einer Weile, geschah, was zu erwarten war: Die Verlassis begannen, die Stadt zu verlassen.
Die ersten, die weggingen, waren die Anwälte, die Notarinnen, die Versicherungs-, und Immobilienmakler und -Maklerinnen, und ganz allgemein, all diejenigen, die für große Unternehmen und Konzerne arbeiteten und ihre Arbeit anderswo genauso fortsetzen konnten wie in X, ohne dass es jemand wirklich bemerkte.
So störte der Weggang der ersten Ausziehenden — abgesehen von nahen Verwandten — das tägliche Leben in X zunächst kaum mehr als es ohnehin schon gestört war.
Es dauerte aber nicht lange, bis die ersten Bäckerinnen, Ärzte, Kneipenbesitzerinnen, Chorleiter oder Physiotherapeuteninnen ankündigten, dass auch sie gehen würden und mit ihnen ihr Läden, ihre Praxen, ihr Lokal und alle von ihnen angebotenen Aktivitäten und Dienstleistungen.
Die Bleibenden wussten natürlich, dass dies geschehen würde, aber dennoch war es ein Schock. “Was werden wir tun?”, fragten sie sich gegenseitig, “Wie werden wir leben, wenn alle weg sind?”
Und in der Tat wurde die Stadt immer leerer. Es gab mehr und mehr leere Häuser und leere Geschäfte. Und in den Geschäften, die noch geöffnet waren, gab es immer weniger zu kaufen.
Die Menschen waren gezwungen, weit zu reisen, um all die Dinge zu finden, die sie täglich brauchten. Die Züge, Busse und Straßenbahnen verkehrten immer seltener. Die städtischen und staatlichen Verwaltungen waren nicht mehr in der Stadt vertreten und es war fast unmöglich, einen Termin bei den wenigen verbliebenen Zahnärzteninnen oder Friseuren zu bekommen. Die Straßen wurden nicht mehr gereinigt, und der Müll wurde nur noch selten abgeholt.
Ihre Stadt hatte begonnen, wie eine Geisterstadt auszusehen. Und die Bleibenden fühlten sich wie die Geister.
Als die letzten Verlassis die Stadt verließen, war die Stimmung unter den Bleibis nicht sehr gut.
Obwohl sich kaum jemand traute, es laut auszusprechen, dachten viele an all diejenigen, die weggegangen waren, und ob ihr Platz nicht eher bei ihnen sein sollte.
Die Menschen in der Regierung waren froh, dass ihr Plan aufging: Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bleibenden endlich zur Vernunft kommen und akzeptieren würden, dass sie sich einer Sache verschrieben hatten, die größer war als sie selbst … … oder so dachten sie zumindest.
Eines Tages hatte Frau Q, die von Anfang an zu den motiviertesten Bleibis gehörte, eine brillante Idee: “Wenn die Begründung für die Wahl unserer Stadt darin besteht”, dachte sie, “dass kaum noch jemand hier leben will, dann müssen wir einfach einen Weg finden, dass die Leute es wieder wollen.”
Und sie dachte weiter nach: “Was haben wir hier im Überfluss, und was vermissen die Menschen in anderen Orten am meisten? Billige Wohnungen! Wir haben hier so viele leere Häuser, die niemandem mehr gehören. Wir sollten sie jedem, der bei uns wohnen will, kostenlos zur Verfügung stellen. Wer würde schon zu einem kostenlosen Haus nein sagen?”
Und so fuhren die Bewohner von X in den folgenden Wochen, ohne dass die Regierung es bemerkte und so diskret wie eine Verschwörung nur sein kann, in jede Stadt des Landes, um nach Menschen zu suchen, die eine billige Wohnung brauchten. Und wie sich herausstellte, gab es für das, was sie zu bieten hatten, viele Interessenten.
Es waren junge Menschen, die sich nach einer anderen Gesellschaft sehnten und in X eine Möglichkeit für einen Neuanfang sahen. Es waren Menschen, die die steigenden Mieten in den Großstädten nicht mehr bezahlen konnten. Es waren Menschen, die von anderen Kontinenten kamen und vor Kriegen, Umweltkatastrophen und unterdrückerischen Regimen geflohen waren.
Es gab Familien mit Kindern, Alleinstehende, Gruppen von Freunden und Kollektive. Einige ließen sich von ihrer Arbeit beurlauben, andere konnten auf Distanz arbeiten. Einige kündigten ihre Jobs, die sie ohnehin nicht mochten, und andere waren arbeitslos.
Schnell zogen neue Menschen in die Stadt. Sie fanden in den vielen leer stehenden Häusern und Gebäuden ein neues Zuhause. Um die Neuankömmlinge willkommen zu heißen, organisierten die Alteingesessenen gemeinsame Abendessen in der Kantine des stillgelegten Rathauses.
Dank dieser Abendessen lernten sich die Menschen schnell kennen: Neuankömmlinge und Alteingesessene, Neuankömmlinge und andere Neuankömmlinge, aber auch Alteingesessene und Alteingesessene, die nach so vielen Jahren in der gleichen Stadt das Gefühl hatten, einander – und sich selbst – neu zu begegnen.
Was als einfache Begrüßungsveranstaltungen begann, wurde schnell zu einem zentralen Element des Lebens in X. Die Neuankömmlinge kamen aus vielen verschiedenen Gesellschaftsschichten, Ländern und Kulturen, und jeder war bestrebt, der Gemeinschaft etwas zu geben. Die Vielfalt der in der Kantine servierten Mahlzeiten wurde beeindruckend, und diese Mahlzeiten wurden auch zum Anlass für Konzerte, Vorstellungen, Debatten und vielen andere kulturelle Veranstaltungen.
Schnell reichte der Platz in der Kantine des Rathauses nicht mehr aus. Andere Abende wurden also in anderen Stadtteilen organisiert. Bald hatte jede Kantine ihre kulinarischen Spezialitäten und ihr eigenes Programm.
Zu der Zeit hiess es, dass in X an jedem Abend etwas Spannendes los war.
Leute aus den Nachbarstädten kamen sogar für einen Tag herüber, um die besondere Atmosphäre und die Veranstaltungen zu erleben.
Alles war ziemlich chaotisch, aber vorallem auch aufregend.
Das Jahr, in dem diese Ereignisse stattfanden, war ein Wahljahr im Land. Vielleicht hatten die Politiker also dringendere Probleme, oder sie gingen einfach davon aus, dass sich mit der Zeit alles von selbst lösen würde.
Wir werden es wohl nie erfahren. Aber angesichts des Rufs, den X in der Region schnell erlangte, dauerte es erstaunlich lange, bis die Regierung überhaupt zu bemerken schien, dass in der Stadt etwas Unerwartetes geschah.
Als sie es schließlich bemerkten, reagierten sie aber sofort.
Um zu verhindern, dass neue Einwohner in die Stadt kommen, wurde die Polizei geschickt, um Kontrollpunkte an allen Straßen und Zugängen einzurichten.
Von da an konnten nur noch die ursprünglichen Bewohner der Stadt ein- und ausgehen. Neuankömmlinge, die die Stadt verließen, durften nicht mehr in die Stadt zurückkehren.
Und, es funktionierte: Mit dieser Maßnahme wurde nicht nur der Zustrom von Menschen in die Stadt gestoppt, sondern auch das Leben für alle viel schwieriger gemacht: Von nun an, war jeder in X auf die Alteingesessenen angewiesen für alles, was sie von außerhalb der Stadt benötigten — was zu diesem Zeitpunkt beinah alles war, was sie nötig hatten.
Das Eingreifen der Regierung sorgte für viel öffentliche Aufmerksamkeit und Polemik. Viele Tage hintereinander machte die Situation in X dicke Schlagzeilen.
Und, schon bald, hatte fast jeder im Land seine eigene Meinung zu den Vorgängen in X. Auch im Wahlkampf wurde die Situation zum unausweichlichen Thema:
Einige Leute vertraten die Ansicht, dass die Alteingesessenen niemals aus ihrer Stadt vertrieben werden sollten und dass man eher das Problem der überhöhten Wohnungspreise angehen sollte, statt die Neuankömmlinge zu vertreiben, die in X Zuflucht suchten.
Andere dagenen, äußerten sich sehr kritisch gegenüber den Bewohnern von X, die — ihrer Meinung nach — keinen Überblick über die Gesamtsituation hätten. Für sie war die Renaturierung keine Frage der Wahl, sondern eine Frage des Überlebens. Wenn man den Bewohnern von X nicht ins Gewissen reden konnte — dachten sie — dann sollten sie eben mit Gewalt umgesiedelt werden.
Es schien auch eine wachsende Unterstützung in der Bevölkerung zu geben für die Menschen in X, und für das soziale und politische Experiment, das sie darstellten.
Die Regierung war zwischen zwei Fronten hin- und hergerissen. Einerseits fühlte sie sich unter Druck gesetzt, ihre Renaturierungspolitik wie geplant umzusetzen und ihre Verpflichtungen gegenüber der internationalen Gemeinschaft einzuhalten. Andererseits galt es, ihre Wähler zufrieden zu stellen, um bei den kommenden Wahlen wiedergewählt zu werden.
“Was sollen wir tun?”, fragten sich die Leute in der Regierung, “Wenn wir es den einen recht machen, werden wir die anderen enttäuschen!”
Auch in X blieben die Menschen nicht von Meinungsverschiedenheiten und Spannungen verschont. Die Ankunft der Neuankömmlinge löste bei vielen der Alteingesessenen gewisse Ängste aus.
“Wer sind all diese Leute, und wie sollen wir hier noch für Ordnung sorgen?” fragten sie.
Und in der Tat mussten die Menschen in X alles, was sie brauchten, ohne jegliche Unterstützung von außen organisieren und regeln.
Diejenigen, die hier geboren und aufgwachsen waren, hatten sich an eine mehr oder weniger effiziente Müllabfuhr, Straßenreinigung, Gesundheitspflege, Energie, Lebensmittel- und Wasserversorgung gewöhnt.
Sie machten sich große Sorgen, wie sich die Situation entwickeln würde.
Viele derjenigen, die aus ärmeren Ländern gekommen waren, wussten dagegen sehr wohl, wie es ist, wenn man sich bei der Deckung seiner Grundbedürfnisse nicht vollständig auf den Staat verlassen kann.
Sie hatten viel wertvolles Wissen und Erfahrung zu teilen.
Einige der Alteingesessenen sagten: “Wir haben unser ganzes Leben hier verbracht, wir sollten mehr Mitspracherecht darüber haben, wie die Dinge hier laufen sollen.”
Aber nachdem andere Mitbürger sie darauf hingewiesen hatten, dass ohne die Neuankömmlinge wahrscheinlich keiner von ihnen noch in X leben könnte oder wollte, waren sich fast alle einig, dass die Zukunft von X — wie auch immer sie aussehen würde — von allen in der Stadt lebenden Menschen fair entschieden werden müsse.
Kurz darauf wurde der Stadt in einer ersten gemeinsamen Entscheidungsprozess ein neuer Name gegeben.
Von nun an sollte es in X keine “Alteingesessenen” und “Neuankömmlinge” mehr geben, sondern nur noch “Bürger und Bürgerinnen von: Neu-X”.
Es gab viel zu tun, und fast jeder arbeitete auf die eine oder andere Weise, um das Leben in Neu-X möglich und gut zu machen.
Aber ausser den vielen Rentner gab es nicht viele Menschen, die noch Geld verdienten.
Alle lebten fast ausschließlich von den Lebensmitteln und Waren, die außerhalb der Stadt gekauft werden mussten, und von der Arbeit, die die Menschen freiwillig verrichteten.
Wer sollte denn für diese Waren bezahlen? Und mit welchem Geld?
Nach verschiedenen Versuchen, Tauschhandel zu betreiben, eine Zeitbank einzurichten oder neue Währungen zu schaffen, kam man zu dem Schluss, dass es am einfachsten war, ganz ohne Geld auszukommen.
Das Geld, das die Menschen noch verdienten, wurde also auf einem einzigen gemeinsamen Bankkonto gesammelt, und mit diesem Geld wurde alles bezahlt, was von der Außenwelt benötigt wurde.
Ansonsten wurde Neu-X für geldfrei erklärt.
Die Menschen trugen mit ihrer Zeit, ihren Fähigkeiten, ihrer Kraft und ihrer Anwesenheit bei, was sie konnten, und sie nahmen sich was sie brauchten, von dem, was da war.
Nur Herr D. war mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und bestand darauf, sein Geld zu behalten und für alles zu bezahlen, was er brauchte. Inzwischen waren die Menschen in Neu-X daran gewöhnt, dass Herr D. seine eigenen Wege ging, also ließen sie ihn gewähren. Der Handel mit Herrn D. war ein bisschen wie ein Spiel mit Spielgeld. Die Kinder liebten es, mit Herrn D. Geschäfte zu machen.
Doch, für manche Menschen bedeutete das Leben in Neu-X, auf zu viele Dinge zu verzichten, die sie für ihr Wohlbefinden für wesentlich hielten.
“Ohne Erdbeeren kann ich nicht glücklich sein”, sagte der eine, obwohl es Oktober war; “Ich will neue Klamotten”, sagte der andere.
“Warum sollen wir so viel Geld für Zigaretten ausgeben?”, konnte man auch Leute sagen hören, oder “Wer weniger arbeitet, sollte auch weniger essen!”…
Schließlich kündigte eine Gruppe von Bürgern aus Neu-X ihren Aufbruch an. Sie wollten eine höhere Lebensqualität und mehr individuelle Freiheit.
Sie glaubten nicht daran, dass dies in Neu-X jemals möglich sein würde.
Also, gingen sie weg.
Einige dachten, dies sei der Anfang vom Ende, denn viele andere würden ihrem Beispiel folgen und die Stadt verlassen.
Doch, in Wirklichkeit, geschah genau das Gegenteil. Die Menschen fühlten sich in ihren Beweggründen, hier zu sein, eher bestätigt: die einen stellten fest, wie viel glücklicher sie jetzt waren, obwohl sie einen Teil ihres materiellen Komforts hatten opfern müssen. Andere, die ihr ganzes Leben lang mit finanziellen Problemen zu kämpfen hatten, fanden trotz der prekären wirtschaftlichen Lage in der Stadt mehr Stabilität — und vor allem waren sie mit ihren finanziellen Problemen nicht mehr allein. Und diejenigen, die vor einer Gefahr geflohen waren, lebten jetzt — ganz einfach—, in größerer Sicherheit.
Die Abreise der unzufriedenen Bürgerinnen wirkte sich nicht allzu negativ auf Neu-X aber sie erregte erneut Aufmerksamkeit und spitzte den Konflikt mit der Regierung zu.
Seit der Einrichtung der Kontrollpunkte bestand die Strategie der Regierung darin, so wenig wie möglich in Bezug auf Neu-X zu unternehmen, um keine potenziellen Wähler zu verärgern. Doch, in der Zwischenzeit, hatte die internationale Gemeinschaft Anzeichen von Ungeduld gezeigt.
Dem Land drohten sehr hohe Geldstrafen, wenn es die Renaturierungsziele, zu denen es sich verpflichtet hatte, nicht einhalten würde.
Da Neu-X nun erneut in den Schlagzeilen war, sah sich die Regierung gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen:
Sie kündigte an, dass alle verlassenen Häuser und Gebäude sofort abgerissen werden würden.
“Das ist ein kluger Schachzug”, dachten die Leute in der Regierung. “Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir fangen schon an, die Stadt zu renaturieren, und wenn die Hälfte davon weg ist, werden die Menschen in Neu-X umso eher abwandern wollen!”
Und so wurde der Plan in die Tat umgesetzt.
Als sie die Nachricht hörten, läutete bei den Einwohnern von Neu-X die Alarmglocke. Sie waren von Anfang an bereit, sich einem solchen Schritt der Regierung zu widersetzen. Sie ließen alles stehen und liegen.
Als sich also die Bulldozer der Regierung auf ein erstes Gebäude zubewegten, rannten alle hinein — Alt und Jung — und ketteten sich an Pfeilern, Heizkörpern und Geländern fest.
Die Arbeiter waren gekommen, um Gebäude abzureißen, nicht um Menschen unter den Trümmern zu zerquetschen. Als sie Menschen in dem Gebäude sahen, das sie zerstören wollten, hielten sie also sofort an und gingen zu einem anderen.
Aber auch da waren schon Leute drin, und hatten sich angekettet.
Das ganze Land verfolgte die Ereignisse in Neu X. Einige Menschen protestierten, aber die meisten waren der Meinung, dass es legitim sei, die verlassenen Gebäude abzureißen, da sie formal dem Staat gehörten und ohnehin leer standen — und vor allem, wenn man auf diese Weise die Zahlung von den hohen Geldstrafen auch noch vermeiden konnte.
Die Regierung schickte mehr Arbeiter und mehr Maschinen nach Neu- X, was dazu führte, dass die Einwohner schneller von einem Haus zum anderen laufen mussten, um sie zu schützen. Dieser seltsame Wettbewerb dauerte eine ganze Woche, und die Bewohner von Neu-X steckten heldenhaft ihre ganze Energie in den Kampf.
Doch, in Neu-X standen viele Gebäude leer. Je mehr Bulldozer eingesetzt wurden, in desto kleinere Gruppen mussten sich die Verteidiger aufteilen.
So waren am Ende nur noch zwei oder sogar nur noch eine Person übrig, um ein Gebäude zu verteidigten. An dem Punkt sah die Regierung eine Chance, die Protestierenden aus den Häusern zu entfernen, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen.
So wurden die ersten Gebäude abgerissen.
Die Bewohner von Neu-X erkannten, dass sie ihre Stellungen nicht mehr halten konnten. Also zogen sie sich zurück. Sie beschlossen, ihre Kräfte auf die Verteidigung der Häuser zu konzentrieren, in denen die Menschen tatsächlich lebten, und auf die Gebäude, die sie tatsächlich nutzten.
Am Ende des Tages konnten fast alle benutzten Häuser gerettet werden und nur zwei Gebäude, in denen Gemeinschaftskantinen untergebracht waren, fielen den Bulldozern zum Opfer.
Die Leute in der Regierung müssen mit dem Ergebnis zufrieden gewesen sein, denn kurz darauf, so schnell wie sie aufgetaucht waren, waren die Maschinen verschwunden.
Als sie am nächsten Tag aufwachten, konnten die Menschen ihre Stadt kaum wiedererkennen. Mehr als die Hälfte von Neu-X war einfach weg. Wo sich vor wenigen Tagen noch Geschäfte, Wohngebäude, Fabriken, Parkplätze, Büros, Gehwege und Straßen befanden, war jetzt nur noch kahles Land, übersät mit Resten von Bauschutt. Es war, als würde man aus einem Albtraum aufwachen und erkennen, dass es doch kein Albtraum war, sondern die Realität.
Die Ziegel, Balken, Türen, Gehwege, Glas, Kies, Kunststoff, Metall, Stein und Isoliermaterialien, die einst die Hälfte der Stadt ausmachten, stapelten sich jetzt auf einem riesigen Haufen etwas außerhalb der Stadt.
Wo sich einst ein Industriekomplex befunden hatte, der die ganze Region mit Stolz und Arbeitsplätzen versorgte, türmte sich jetzt ein Trümmerberg, der von jeder Ecke der Stadt aus zu sehen war.
Nachdem sie so viel Energie, Zeit und Hoffnungen in den Widerstand gegen das Verschwinden ihrer Stadt gesteckt hatten, fühlten sich die Menschen in Neu-X völlig besiegt. Diejenigen, die ihr ganzes Leben dort verbracht hatten, waren am Boden zerstört. Es war nichts mehr übrig – gerade so, als ob ein Erdbeben, ein Tornado oder ein Tsunami ihr Zuhause getroffen und dem Erdboden gleichgemacht hätte — aber schlimmer noch, denn in ihrem Fall würde es keine Katastrophen- oder Wiederaufbauhilfe geben.
Sie fühlten sich völlig allein in den Trümmern ihres eigenen Lebens.
Jeder in Neu-X saß da, und starte auf die Katastrophe, ohne jede Idee oder Hoffnung für die Zukunft.
Dort in der Ferne überragte der Trümmerberg die Ruinen. Seine kahlen Flanken waren so steil, dass man sich — selbst in der Verzweiflung — fragen musste, wie die Maschinen überhaupt in der Lage waren, einen solchen Berg aufzutürmen. Den Bewohnern von Neu-X war, als blickten sie auf ihre gesamte Geschichte, die sich direkt vor ihnen stapelte.
Frau E. konnte nicht umhin, die blassgrünen Spuren am Fuße des Haufens mit der extravaganten Farbe zu identifizieren, die ihre Tochter vor nicht einmal fünf Jahren für ihr neues Haus gewählt hatte.
Frau A. hatte den Eindruck, sie könne die Ziegelsteine ihrer Grundschule erkennen, die auf einer Schicht irgendwo auf halber Höhe des Berges lagen.
Herr M. hätte schwören können, dass der hellere Schutt, der die gesamte Oberseite des Haufens bedeckte, von dem alten Kraftwerk stammte, in dem sein Vater vor fast hundert Jahren gearbeitet hatte.
Viel später würden die Leute sagen, dass der Anblick wie eine Postkarte vom Fujijama ausgesehen hat — nur halt in klein.
Es blieb seltsam still in der Stadt, als hätten die Menschen Angst, miteinander zu sprechen. Sie waren verblüfft über das, was passiert war und es dauerte lange, bis sie endlich den Mut fanden, sich zu treffen und zu besprechen, was zu tun sei.
Die älteren Bewohner waren erschöpft. „Wir haben genug“, sagten sie, „es ist vorbei. Die Stadt ist weg. Lasst uns einfach dorthin gehen, wohin die Regierung uns haben will. Vergessen wir das alles.“
An dieser Stelle ergriff Herr G. das Wort.
Herr G. war als Flüchtling ins Land gekommen, nicht lange bevor er nach Neu-X kam. “Ich verstehe, dass Sie sehr müde und traurig darüber sind, was mit der Stadt passiert ist. Und dass das, was jetzt weg ist, nie mehr zurückkommen wird. Ich verstehe das. Es gibt nichts, was man dagegen tun könnte.
Aber sehen Sie sich um! Es könnte viel schlimmer sein. Wir haben noch unsere Häuser. Die meisten der Gebäude, die wir brauchen, stehen noch. Keiner von uns ist im Gefängnis, wir sind noch frei und können das Leben führen, das wir führen wollen. Glauben Sie mir, das ist eine große Chance. Solange sie andauert, können wir sie nicht aufgeben!”
Und so, ging das Leben in Neu-X weiter.
Anfangs hatten die Menschen noch das Gefühl, in einem Katastrophengebiet, oder nach einem langen Krieg zu leben. Alles sah so verlassen aus. Zwischen den Häusern und Gebäuden war so viel kahles Land. So viele Hohlräume, die die Menschen immer wieder daran erinnerten, was dort einmal gewesen war.
Doch dann begannen langsam Gräser und andere kleine Pflanzen, ihren Weg zwischen den Häusern zu suchen.
Lange Zeit sah die Landschaft noch schlammig und düster aus, aber eine andere Art von Leben zeichnete sich ab.
Nach und nach ersetzte dieses neue Leben die Erinnerungen an Mauern und Gehwege.
Es war eine stark vernarbte Landschaft, aber sie gab bereits viele Hinweise darauf, wie Neu-X aussehen könnte, wenn man ihr nur genügend Zeit ließ.
Und mit der Zeit lernten auch die Menschen, das, was sie sahen, zu mögen.
Nur Herr D. hatte das Bedürfnis, Roundup auf jedes Unkraut zu sprühen, das in der Nähe seines Hauses auftauchte. Aber das war eben wieder Herr D…
Die freien Flächen waren reichlich vorhanden. Also konnten mitten in der Stadt Gemüsegärten angelegt werden, aber auch größere Felder mit Bohnen, Kartoffeln, Maïs und vielen anderen Pflanzenarten.
Das Land war noch nicht sehr fruchtbar, aber alles, was geerntet werden konnte, war mehr als willkommen. Denn viele der älteren Bewohner – die zumeist von der Regierung offiziell als “Bleibende” anerkannten waren – waren der vielen Fahrten müde, die sie unternehmen mussten, um die Stadt mit Lebensmitteln zu versorgen.
Es wurden auch Versuche unternommen, auf dem Fuji Yama — wie die Leute den Trümmerberg jetzt tatsächlich nannten — Bäume zu pflanzen, aber nichts schien dort wirklich wachsen zu wollen.
Zu diesem Zeitpunkt hatten im Land bereits die Wahlen stattgefunden.
Die neuen Regierungsparteien verspürten keinen Drang, den Renaturierungsprozess fortzusetzen. Wie sich herausstellte, lagen die meisten Länder weit hinter dem Zeitplan zurück. Auch wenn auf jedem internationalen Gipfel die Renaturierung als eine Hauptprioritäten beschworen wurde, zogen es alle vor, das Thema nicht zu sehr voranzutreiben, um einen Status quo zu bewahren, der inszwischen tatsächlich für alle viel bequemer schien.
Und auch wenn die Polizei immer noch die Kontrollpunkte an den Zufahrtsstraßen besetzt hielt, wurden die Menschen in Neu-X ansonsten lange Zeit in Ruhe gelassen.
Eines frühen Morgens öffnete der Sohn von Herrn G die Tür und sah ein Reh aus seinem Vorgarten laufen.
Einige Zeit später entdeckte jemand einen Washbär im Stadtzentrum.
Dann, eine Familie Frettchen, Reiher, Hasen, Salamander, ein Stinktier, Schlangen und Eidechsen, unbekannten Bienen- und Spinnenarten, und ganz vielen Mücken.
Irgendwann berichtete sogar jemand, er habe einen Beer gesehen, doch ob das stimmte, muss noch bewiesen werden.
Herr D. wurde krank.
Er weigerte sich, in ein Krankenhaus außerhalb von Neu-X gebracht zu werden und bestand darauf, bis zu seinem Tod in seinem Haus zu bleiben.
Also, kümmerten sich die Leute abwechselnd um Herrn D.
Seine Krankheit schien sein Temperament nicht wirklich zu mildern. Er bestand hartnäckig darauf, die Menschen für ihre Hilfe zu bezahlen, wahrscheinlich – wie viele vermuteten – um sich legitimer zu fühlen, wenn es darum ging, sie herumzukommandieren.
Auch wenn er oft als Nervensäge angesehen wurde, war es ein trauriger Tag in Neu-X, als Herr D dann verstarb.
In seinem Bett, unter dem Kissen, wurde ein Testament gefunden, geschrieben in einem hübschen bürokratischen Stil:
Ich, Herr D, unterbreite hiermit mein Testament den Einwohnern von Neu-X, von denen ich erwarte, dass sie es gewissenhaft ausführen.
Punkt 1. Sobald mich meine Lebenskraft auf diesem Bett verlassen hat, wird mein Körper mit bloßen Händen in den Wald getragen, wo er dem Wolf und den anderen Lebewesen, die dort leben, als Mahlzeit dienen wird. (…auch wenn sie eine solche Delikatesse wahrscheinlich nicht verdienen.)
2.1. Das Haus der D’s soll abgerissen werden, um das Land darunter zu befreien und es der Wildnis zurückzugeben.
2.2. Das Haus wird Stück für Stück abgerissen, und es wird darauf geachtet, dass alle Teile intakt bleiben, damit sie als Baumaterial für künftige Bauten dienen können.
2.3. Der Bau der unter Punkt 2.2 genannten Gebäude darf nicht innerhalb der Stadtgrenzen von Neu-X durchgeführt werden.
Gezeichnet: Herr D
Das Testament von Herrn D. war für alle ziemlich überraschend. Aber ein Testament ist ein Testament. Also taten sie, was darin verlangt wurde.
Alle in Neu-X, sowohl Kinder als auch Erwachsenen, stellten sich in zwei Reihen auf, die bis an den Stadtrand reichten.
Der Leichnam von Herrn D. wurde von Hand zu Hand weitergereicht, bis er einen einsamen Platz im jungen Wald erreichte.
Dort legten die letzten Leute in der Reihe den Leichnam vorsichtig auf den Boden.
Für viele von ihnen war es das erste Mal, dass sie einen toten Körper berührten…
Das Haus abzureißen, wie Herr D. es sich gewünscht hatte, war keine leichte Aufgabe. Um die Fliesen, die Ziegel, die Fenster, die Balken, die Dielen, die Rohre, die Lichtschalter und alle anderen Teile, aus denen das Haus bestand, nicht zu beschädigen, konnten sie es nicht einfach mit einem Bulldozer umkippen, oder mit einem Kran zerquetschen, wie es die Regierung getan hatte: Das Haus musste buchstäblich Stück für Stück von oben bis unten dekonstruiert werden.
Auch hierfür wechselten sich die Bewohner von Neu-X ab.
Und als das Haus von Herrn D. endlich vollständig abgerissen war, hatte fast jeder in der Stadt mindestens einen halben Tag damit verbracht.
Alle Teile, die wiederverwendet werden konnten, wurden in die Nachbarstädte gebracht und an denjenigen verschenkt, die Baumaterialien benötigten.
Es erwies sich als zu schwierig, den übrigen Schutt auf die Spitze des Fuji Yama zu bringen. Also wurde daraus ein kleiner Haufen, im Hof neben dem Haus aufgeschüttet — genau dort, wo Herr D. das Unkraut bekämpfte.
Die Baugrube des Hauses blieb offen. Zeit und Regen füllten es mit Wasser und es wurde zur Heimat von Fröschen, Enten und Seerosen.
Als man sah, dass der kleine Resthaufen aus dem Haus von Herrn D. im Gegensatz zum Fuji Yama Klette, Löwenzahn, Kriechendes Knabenkraut, Wolfsmilch, Brennnesseln, Bermudagras und alle möglichen anderen Pionierarten anzog, mussten viele schmunzeln und dachten: das Unkraut würde sich rächen.
Schnell wurde aus dem Haufen ein kleiner grüner Hügel, von dem aus Eisvögel in den Teich blicken konnten.
Nicht lange danach verstarb Frau Z, die zweitälteste Person der Stadt. Sie hinterließ ein sehr kurzes Testament, in dem nur stand:
„Es würde mir gefallen wie Herr D.“
Ihr Körper wurde so von Hand zu Hand in den Wald getragen. Erst viel später, als ihr Mann starb, wurde ihr Haus behutsam abgebaut und in den Nachbarstädten angeboten. Noch später tauchte neben einem kleinen grünen Hügel ein kleiner Teich auf, auf dem einst das Haus des Z. gestanden hatte.
Die Zeit verging und in Neu X wuchs das Unkraut zu Sträuchern… und aus den Sträuchern kleine Bäume.
Die Gemüsegärten der Stadt und die Felder wurden immer fruchtbarer, die Kinder grösser, und die älteren Einwohner wurden immer älter.
Herr O, der sein ganzes Leben lang in X als Müllmann gearbeitet hatte, erlitt auf seinem Fahrrad auf dem Weg zu einem Treffen, bei dem es um die Verbesserung der Müllabfuhr in Neu X ging, einen Herzanfall.
Zunächst waren die Menschen unsicher: ” Was sollen wir für seine Beerdigung tun?” denn er hatte kein Testament hinterlassen.
Aber für die meisten fühlte es sich dann doch, ganz natürlich an, dem Beispiel von Herrn D. und Frau Z. zu folgen.
Da Herr O. in einem Mehrfamilienhaus wohnte, wurde alles in seiner Wohnung abgebaut, bis auf ein paar Betonpfeiler, die die oberen Stockwerke des Gebäudes hielten, in denen noch andere Menschen wohnten.
Der Teich entstand erst viel später, als die letzten Bewohner des Gebäudes verstarben, in der Mitte eines Kreises aus vielen kleinen Hügeln.
Von da an wussten die Menschen in Neu-X — ob alt oder jung — genau was passieren würde, wenn sie das Ende ihres Lebens erreichten.
Und das, machte sie glücklich.
Mit der Zeit verabschiedeten sich, einer nach dem anderen, die älteren Bewohner von Neu-X.
Jedes Mal wurde ihr Körper dem Wald verfüttert und ein Teil dessen, was einst die Stadt war, verschwand aus der Landschaft.
Platz für eine neue Art von Bürgerninnen wurde gemacht, die die Stadt nun ihrerseits ein Zuhause nennen konnten.
Der Rückbau des Hauses des Verstorbenen galt als wichtiger Teil der Bestattungszeremonie. Es war eine Zeit der Trauer, aber auch der Erneuerung.
Je näher sich leute dem Verstorbenen fühlte, desto mehr Zeit verbrachten sie auf der Rückbaustelle. Dort trafen sich Menschen zum Arbeiten, zum Erinnern und zur Vorbereitung auf die Zukunft.
Sie begannen auch Lieder zu singen und zu erfinden, um die wichtigen Momente des Lebens in Neu-X zu begleiten.
Das folgende Lied wurde beispielsweise oft von denen gesungen, die das Haus eines verstorbenen Mitbürgers abbauten. Die begleitende Perkussion wurde traditionell mit den Werkzeugen ausgeführt, die sie gerade verwendeten – am häufigsten: Hammer und Meißel.
Die Leute von Neu-X hatten die Angewohnheit zu sagen, dass diese Lieder „mit dem Innenohr“ gehört werden müssten.
Damit meinten sie, dass diese Lieder von der Person, die zuhörte, mitgesungen werden mussten, um wirklich gehört zu werden.
Sie dürfen also, wenn sie möchten, gern mitsingen.
(gesungen)
Haus du verschwindest nun
Stück für Stück
Wertvoll wie du uns warst
Stück für Stück
Mein Hand zerlegt dich nun
Stück für Stück
Morgen an deiner Statt
Sumpf und Busch
Haus auch wir schwinden bald
Sumpf und Busch
Zart geben wir uns auf
Sumpf und Busch
Stück für Stück um du ziehst
Punkt und Ring
Wir aber bleiben hier
Punkt und Ring
Froh, dass es weiter geht
Punkt und Ring
Haus wir selbst werden Haus
Stück für Stück
Schon seit einiger Zeit fühlten sich die Einwohner von Neu X alle viel weniger mit dem verbunden, was die Stadt einmal war, als mit dem, was die Stadt dabei war zu werden.
Die Einwohner von Neu X beschlossen also, den Namen ihrer Stadt zu ändern. Nach einem langen Prozess und zahlreichen Diskussionen, die nicht frei von Spannungen waren, einigte man sich auf einen neuen Namen:
Die Stadt sollte fortan „Y“ heißen.
Aber wie es bei Namen so ist: Letzten Endes werden die Dinge so genannt, wie die Leute sie tatsächlich nennen. Manche Menschen nannten ihre Stadt „Die Stadt des Grases“, andere, vor allem die ältere Generation, nannten sie die „Fröhlich Schrumpfende Stadt“.
Und viel, viel später wurde es von Außenstehenden als „Tal der 1000 Hügel und Teiche“ bezeichnet.
Mit Unterstützung einiger Einwohner gelang es einer Dokumentarfilmerin und ihrem Team, einige Zeit in Y zu verbringen.
Nachdem ihr Film im Fernsehen ausgestrahlt worden war, baten die ehemaligen Bewohner von Y — die offiziell als “Ausziehenden” bezeichnet wurden — die Regierung um die Erlaubnis, ihre noch in Y lebenden Verwandten zu besuchen, oder zumindest an deren Beerdigung teilnehmen zu können.
Die Ausziehenden trauten ihren Augen nicht, als sie ankamen.
Sie hatten eine graue, deprimierende Stadt mit verlassenen Industriegebieten, verschmutzten Landschaften und einer schwindenden Kultur hinterlassen.
Sie kamen jetzt in ein Dorf zurück, das die Größe einer Stadt hatte, aber an jeder Kreuzung an Bauernhöfe und Wildnis zu grenzen schien. Es war in der Tat sogar seltsam, sie Straßen zu nennen, da die meisten Wege ziemlich kurvenreich waren und sozusagen von den Füßen gestaltet wurden, die sie beschritten.
Es war, als ob sie einen Ort zum ersten Mal besuchten — abgesehen davon dass sie dort den größten Teil ihres Lebens verbracht hatten.
Für die Ausziehenden war die Ankunft in Y wie der Eintritt in einen Zustand der Halluzination — wie ein Traum, der zwischen Albtraum und Urlaub auf einer abgelegenen Insel schwankt.
Nach dem ersten Schock, wurde es meist ein sehr emotionaler Besuch. Für diejenigen, die zu einer Beerdigung kamen, aber auch für diejenigen, die ihre Eltern, Großeltern, Tante, Onkel oder ehemaligen Nachbarn zum ersten Mal seit so langer Zeit wieder sahen. Oder für andere, die die Hügel und Teiche derjenigen besuchten, die bereits gegangen waren.
Viele der Besucher halfen beim Rückbau der Häuser der Menschen, die sie kannten.
Andere kämpften zu sehr mit diesen seltsamen Bräuchen, um mitmachen zu können.
„Warum verschenkt ihr all diese Vintage-Materialien kostenlos?“ würden einige der Ausziehenden die Einwohner von Y fragen: „Es ist eine ziemliche Mode geworden, Dinge, die von hier kommen, wiederzuverwenden. Damit könnte man ziemlich viel Geld verdienen!“
Darauf antworteten die Bewohner von Y: „Aber was nützt das? Wir haben hier mehr als genug. Wichtig ist nur, dass die Häuser anderswo ein neues Leben haben.“
Und schließlich, kam die Zeit, in der die allerletzte ursprüngliche Bewohnerin der Stadt – oder „Bleibi“, wie sie einst genannt wurden – das Ende ihres Lebens erreichte.
Der Körper von Frau K., die zum Zeitpunkt ihres Todes gerade 99 Jahre alt geworden war, war so winzig und so leicht, dass man den Eindruck hatte, er schwebte fast von alleine in Richtung Wald.
Danach hörte man nicht mehr viel von Y.
Niemand kam mehr aus der Stadt heraus — und da nach wie vor nur Bleibis einreisen durften, kam auch niemand mehr herein.
Die Zeit, verging weiter…
Die Regierung, und alle andere Bewohner des Landes hatten viele andere Prioritäten, um die sie sich kümmern mussten.
Es waren schwierige Zeiten, mehrere Krisen standen bevor und die Zukunft schien sehr ungewiss.
Die Politiker vergaßen Y gerne, ebenso wie die Medien.
Hätte jemand dann die Stadt mit den Augen eines Raben, den Ohren eines Fuchses, der Zunge eines Eidechsen oder den Blättern einer Birke besuchen können, wäre er — oder sie — nirgendwo auf die harte Oberfläche einer Betonwand…
den Geruch von köchelndem Essen…
den Klang von Liedern und Werkzeugen…
… und schon gar nicht auf den Anblick oder die Spuren eines menschlichen Bewohners von Y gestoßen.
Wo waren sie denn geblieben?
Waren sie alle der Reihe nach sanft gestorben?
Waren sie unbemerkt weggezogen, um woanders neue Städte zu gründen?
Oder waren sie zu Bewohnern des Waldes, der Hügel und der Teiche geworden?
Niemand würde es jemals erfahren.
Am Stadtrand von Y hielten die Polizisten noch immer ihre Kontrollpunkte besetzt.
Sie hatten sehr, sehr lange niemanden gesehen.
Auch sie wurden alt.
Sie fragten sich, was sie taten.
Sie träumten von all dem, was das Leben ihnen noch zu bieten hatte.
… Und so, irgendwann, gingen sie einfach weg.
ENDE
Brussel, 2024